Erst eine kleine und dann sogar noch eine große Überraschung: Als nach dem Vorbeiflug der NASA-Raumsonde Lucy am kleinen Asteroiden Dinkinesh am 1. November 2023 die ersten Bilder zur Erde übertragen waren, tauchte hinter dem 720 Meter großen Asteroiden ein Mond auf. Zwar hatte das Wissenschaftsteam vorab die Möglichkeit gesehen, dass Dinkinesh einen Begleiter haben könnte, denn die mit irdischen Teleskopen aufgezeichneten Lichtkurven zeigten eine Unregelmäßigkeit, die darauf hindeutete. Doch nun war der Trabant real. Dann kamen noch mehr Fotos und bei deren Betrachtung war das Erstaunen groß: Der Dinkinesh-Mond besteht aus zwei Teilen, er ist ein sogenannter Kontakt-Binärkörper, im Englischen contact binary. Die beiden sich berührenden Trabanten haben Durchmesser von 210 und 230 Metern und umkreisen Dinkinesh während knapp 53 Stunden in 3,1 Kilometer Entfernung.
Der nur 720 Meter große Asteroid (152830) Dinkinesh war das erste Ziel der NASA-Raumsonde Lucy. Mit der Mission Lucy sollen zum ersten Mal Asteroiden aus der Familie der „Jupiter-Trojaner“ erforscht werden. Dabei handelt es sich um Planetoiden, die sich an zwei Punkten vor und hinter dem Gasriesen angesammelt haben, an denen sich die Schwerkraft von Jupiter und Sonne aufhebt, sogenannten Librations- oder Lagrange-Punkte. Lucy befindet sich auf dem Weg zu den „Trojaner“-Asteroiden auf der Jupiterbahn, die 2027 erreicht werden.
Das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR), mit dem Institut für Planentenforschung, ist an der Entdeckung beteiligt.
„Das Lucy-Wissenschaftsteam sammelt seit Januar 2023 Daten über Dinkinesh mithilfe von Teleskopen. Zu diesem Zeitpunkt wurde Dinkinesh zu unserer Liste der Ziele hinzugefügt", sagte Simone Marchi, stellvertretender Leiter des Lucy-Wissenschaftsteams am Southwest Reasearch Institute in Boulder, Colorado (USA). „Wir dachten dank der Teleskopdaten, wir hätten ein recht gutes Bild davon, wie Dinkinesh aussehen würde. Aber dann waren wir begeistert, so viele unerwartete Entdeckungen zu machen!“ Der Begleiter von Dinkinesh trägt inzwischen den von der Internationalen Astronomischen Union (IAU) auf Vorschlag des Lucy-Teams verliehenen Namen (152830) Dinkinesh I Selam. „Es ist das erste Mal, dass eine solche Konstellation beobachtet wurde“, freut sich Dr. Stefano Mottola vom Institut für Planetenforschung am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR), Mitglied des Lucy-Wissenschaftsteams. Gemeinsam mit Frank Preusker, ebenfalls vom DLR-Institut für Planetenforschung, ist er für die photogrammetrische Auswertung der Bilddaten und der Berechnung von digitalen Geländemodellen zur Bestimmung der Form der drei beobachteten Körper zuständig.
In Vorbereitung des Vorbeiflugs beschäftigte sich Stefano Mottola intensiv mit den Lichtkurven des um seine Achse rotierenden und dabei das Sonnenlicht unterschiedlich stark reflektierenden Asteroiden. „Der Verlauf dieser Lichtkurven war für einen normal rotierenden Körper ungewöhnlich“, so Mottola weiter. „Ein Begleiter von Dinkinesh war deshalb denkbar. Aber dass es ein Doppelkörper, ein ‚contact binary‘ sein würde, hat uns total überrascht“. Die Ergebnisse des Lucy-Vorbeiflugs wurden jetzt im Wissenschaftsmagazin Nature veröffentlicht. Lucy ist eine Mission im Discovery-Programm der NASA, die am 16. Oktober 2021 gestartet ist. Ihr Hauptziel sind Asteroiden auf der Jupiterbahn, sogenannte Trojaner, die dem Planeten an zwei Librations- oder Lagrangepunkten 60 Winkelgrad vorauseilen beziehungsweise nachfolgen. Mehrere davon werden zunächst 2027 und 2028 untersucht werden, und noch einmal ab 2033 beobachtet werden. Die Mission ist nach einem drei Millionen Jahre alten fossilen Skelett eines Urmenschen benannt, das 1974 in Äthiopien ausgegraben wurde.
Ursprünglich war 2023 kein Asteroiden-Vorbeiflug geplant. Doch Dr. Raphael Marschall, Mitglied im Lucy-Team, suchte intensiv nach einer Vorbeifluggelegenheit im inneren Asteroiden-Hauptgürtel und war im Januar 2023 erfolgreich. Der damals noch als 1998 VD 57 bezeichnete Asteroid erhielt im gleichen Jahr den Amharischen Namen Dinkinesh („Du bist fabelhaft“) und würde mit geringen Bahnänderungen einen Nahvorbeiflug in 431 Kilometer Distanz ermöglichen. Vor allem konnte er in einer Fluggeometrie erfolgen, die ähnlich den geplanten Asteroiden-Vorbeiflügen während der eigentlichen Mission bei den Trojanern des Jupiter sein würde. Das eröffnete die Möglichkeit, das Terminal-Tracking-System zu testen, also die finale, autonome Erfassung der Entfernung zu den Asteroiden und dadurch ein optimale Zielen darauf. Außerdem konnten die Instrumente von Lucy einem echten experimentellen Test unterzogen werden. Sowohl die wissenschaftlichen als auch die technischen Ziele wurden vollumfänglich erreicht.
Der Vorbeiflug mit Lucy erfolgte in einer Geschwindigkeit von 4,5 Kilometern pro Sekunde relativ zu Dinkinesh in einer Erdentfernung von rund 470 Millionen Kilometern. Wegen der langen Datenlaufzeit zur Erde von 26 Minuten war eine Steuerung der Manöver in Echtzeit nicht möglich. Alle Abläufe wurden zuvor programmiert und liefen vollautomatisch ab. Die mit der L’LORRI-Kamera aufgenommenen 48 Bilder zeigen Details von 10 bis 2,2 Metern pro Bildpunkt (Pixel).
Dinkinesh präsentiert sich darauf als überraschend komplexer Kleinkörper. Am auffallendsten ist eine Furche, die sich auf der fotografierten Seite Dinkineshs zu beiden Seiten des Äquators in Richtung der Pole erstreckt, sowie ein wulstartiger Bergrücken entlang des Äquators. Der längliche Trog wird als sichtbarer Beweis für den Ursprung der begleitenden Binärkörper interpretiert. Das Material, das dort fehlt, wurde bei einem strukturellen Bruch von Dinkinesh herausgerissen, bildete zunächst einen Ring um den Planetoiden, aus dem die beiden Teilkörper von Selam entstanden. Die Ausbeulung entlang des Äquators könnte durch übriges Material entstanden sein, das aus dem Ring zurückgefallen ist.
Das Lucy-Team diskutiert in der jetzt erschienenen Publikation aber auch Varianten dieses Szenarios. Allen Interpretationen liegt ein besonderer Effekt zugrunde, der bei kleinen Asteroiden von weniger als fünf Kilometer Durchmesser eine interessante Rolle spielt: der sogenannte YORP-Effekt. Er ist benannt nach den Anfangsbuchstaben der Wissenschaftler Yarkovsky, O’Keefe, Radzievskii und Paddack, die das Konzept vorhergesagt, berechnet und später auch gemessen und bewiesen haben: Sonnenlicht erwärmt die Oberfläche und regt damit das Emittieren von Wärmestrahlung an. Die Photonen der – auch noch in der „Asteroidennacht“ – emittierten Infrarotstrahlung üben trotz winzigster Masse ein kleines Momentum auf eine Oberfläche aus, was über viele Jahrmillionen Veränderungen bei der Orientierung der Rotationsachse und/oder der Rotationsgeschwindigkeit bewirkt. Dem YORP-Effekt wird eine bedeutende Rolle bei der Entstehung von Begleitern kleiner Asteroiden beigemessen – wie es auch bei der Entstehung von Selam der Fall gewesen sein könnte.
Dinkinesh gehört zur Klasse der S-Typ-Asteroiden, die im Vergleich zu den viel häufigeren, kohlenstoffreichen C-Typ-Asteroiden einen deutlich höheren Anteil an eisen- und magnesiumhaltigen Silikatmineralen haben. Etwa 17 Prozent aller Asteroiden gehören dem Typ S an. Sie sind im inneren Teil des Asteroidengürtels, in etwa einhundert Millionen Kilometern jenseits der Bahn des Planeten Mars, dominant und mit zunehmender Sonnentfernung seltener anzutreffen. Asteroiden vom Typ S haben eine relativ hohe Dichte von durchschnittlich drei Gramm pro Kubikzentimeter. Die Dichte von Dinkinesh wurde auf 2,4 Gramm pro Kubikzentimeter berechnet, was darauf hindeutet, dass der Asteroid porös ist und zwischen seinen Partikeln Lücken von bis zu einem Viertel des Gesamtvolumens hat.